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Streik für die Menschenwürde

erstellt von Anna Blume zuletzt verändert: 30.03.2007 21:02

Torsten Bewernitz im Münsteraner Semesterspiegel Nr. 366, Februar 2007 über das Buch "... auf den Geschmack gekommen"

Ein halbes Jahr nach Beendigung des Streiks bei Gate Gourmet am Flughafen Düsseldorf erscheint das Buch zum Streik


Das global wichtigste politische Ereignis in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2005 war nicht, wie vielleicht viele annehmen mögen, die Wahl der ersten Bundeskanzlerin in der Geschichte dieses Staates, das wichtigste Ereignis fand – fernab der medialen Öffentlichkeit - am Düsseldorfer Flughafen im Streikdorf der Flugcaterer-Firma Gate Gourmet statt – und es dauerte bis zum siebten April des Jahres 2006.

Was macht einen Streik, auch wenn er von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wird, zu einem globalen Ereignis, dessen Reichweite wir heute noch nicht ahnen können?

Die erste Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Mit sechs Monaten war der Streik der Gate Gourmet-ArbeiterInnen einer der längsten in der Geschichte dieses Staates. Wenn das Schule macht, dann gute Nacht, Kapitalismus.

So sollte man meinen. Den AutorInnen des nun erschienen Buches zum Streik ist aber recht zu geben, wenn sie konstatieren: „Die lange Dauer des Streiks ist ein Zeichen von Hartnäckigkeit. Aber nicht von Stärke. Im Gegenteil. Die Streikenden sind gegen den Gegner Texas Pacific Group, den auch die NGG völlig unterschätzt hatte, nicht durchgekommen. Wenn sie mit dem Streik Macht entfaltet hätten, wäre die Firma nach ein paar Tagen Streik zum Einlenken gezwungen gewesen“ (S.93).

Das sehen die Streikenden ähnlich. Ein Aktiver fragt in seinem Streiktagebuch: „Hat der Streik denn überhaupt etwas bewirkt oder verändert? Kaum zum Guten, er hat sogar negative Entwicklungen beschleunigt, die sonst nicht in diesem Tempo möglich gewesen wären“ (S.90).
Aber die außerordentliche Länge war nicht das einzig Besondere an dem Streik bei Gate Gourmet. Zweitens ist es nämlich auf den ersten Blick ungewöhnlich, wer hier gestreikt hat: „Bei Gate Gourmet Düsseldorf stammt etwa die Hälfte der ArbeiterInnen aus anderen Ländern, davon die Hälfte aus der Türkei, die übrigen kommen aus allen Ecken der Welt“ (S.97). Auch das ist jedoch nicht wirklich neu: Im Neusser Werk Pierburg waren es 1973 ebenfalls Arbeitsmigrantinnen, die eine vergleichslose Streikwelle auslösten und damit die sogenannte „Leichtlohngruppe II“ auf den Müllhaufen der Geschichte beförderten. In der offiziellen gewerkschaftlichen Geschichte ist dies kaum in das Bewusstsein gelangt, aber auch dem Streik bei Gate Gourmet ist es vielleicht zu verdanken, daß diese so relevante Episode der Geschichte der Arbeiterbewegung, wie auch Debatten um die Kampfform Streik überhaupt, wiederentdeckt werden.

Der dritte Aspekt, der den Streik bei Gate Gourmet historisch so relevant erscheinen lässt, kann nicht so einfach relativiert werden: Ihm ging ein spektakulärer Streik am Flughafen London/ Heathrow voraus, der tagelang vom Bodenpersonal mit einem Solidaritätsstreik unterstützt wurde und damit einen der wesentlichen globalen Verkehrsknotenpunkte am elften und zwölften August 2005 für 36 Stunden vollkommen lahm legte. Die AutorInnen des Buches „..auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet.“ kommentieren: „Aus zwei Gründen könnten Flughäfen eine besondere Bedeutung für die Arbeiterkämpfe bekommen: Erstens lassen sie sich nicht, wie andere Fabriken in Billiglohnländer verlagern [...]. Zweitens funktioniert die Arbeit am Flughafen wie eine eng verkettete Just-in-time-Produktion, wodurch auch Aktionen von kleinen Arbeitergruppen zur völligen Blockade des Flugbetriebs führen können“ (S.99). Diese Interpretation harmoniert mit anderen Untersuchungsergebnissen etwa Beverly J. Silvers (2005) oder Karl-Heinz Roths (2005), die die Zukunft einer „Arbeitermacht“ ebenfalls u.a. im Transportsektor sehen.

Beide Streiks – Heathrow und Düsseldorf – wandten sich ferner gegen den globalen Finanzinvestor Texas Pacific Group (USA), der der Öffentlichkeit noch gut in Erinnerung sein dürfte, denn er ist die berühmte „Heuschrecke“, die SPD-Chef Franz Müntefering im April 2005 benannte. Es ging in diesem Fall um ein anderes Investitionsgeschäft der TPG, die Übernahme des Armaturenherstellers Grohe. Das geschäftliche Interesse der TPG liegt nicht in der Produktionssphäre, sondern sie will solche Betriebe mit Gewinn wieder abstoßen. Die AutorInnen des Buches benennen dieses Geschäftsgebahren angelehnt an Beverly J. Silver als „Flucht des Kapitals aus der Produktion, in der sich profitbringende Anlagemöglichkeiten nicht mehr finden lassen“. Und: „Diese Verschiebung und nicht die räumlichen Verlagerungen sind der eigentliche Grund für die globale Schwächung der Arbeiterbewegungen [...]“ (S.22).

Das – naheliegend – auch die Streikenden bei Gate Gourmet Düsseldorf das Bild der Heuschrecke aufnahmen, war durchaus Anlaß für Kritik. Aber, das zeigt das vorliegende Buch, durchaus zu Unrecht. Es ist den HerausgeberInnen des Buches –den „flying pickets“ (Umherschweifende Streikposten) – hoch anzurechnen, daß sie eben keine Analyse des Streiks angefertigt haben, sondern, wie schon Jochen Gerster und Willi Hayek in ihrem Buch zu dem wilden Streik bei Opel Bochum (2005), die Streikenden zu Wort kommen lassen. In den Berichten und Interviews wird schnell klar, daß hier niemals ein Finanzkapital gegen ein produzierendes Kapital aufgerechnet wurde, sondern daß sich die Streikenden der Komplexität der Funktionsweise des Kapitalismus durchaus bewusst waren – oder vielmehr bewusst wurden.

Denn das ist wohl der relevanteste Aspekt des vorliegenden Buches. Es erscheint als fortgesetzte Bestätigung der Marxschen These „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Die Streikenden, die sich reflektiert teilweise als „sehr bürgerlich“ beschreiben, gewannen durch den halbjährigen Streik ein Verständnis des kapitalistischen Systems und noch vielmehr, nämlich das sprichwörtliche Klassenbewusstsein.

Es sind diese Berichte und Interviews, die das Buch so lesenswert machen. Der Streik bei Gate Gourmet hat die Wirkung gehabt, die Oskar Negt (1968) sich seinerzeit von Arbeitnehmerseminaren in den Betrieben versprochen hat: Er fungierte als Erfahrungsaustausch, durch den Zusammenhang mit dem Streik in Heathrow sogar als globaler Austausch.
Wie vor einem Jahr das Buch zum Opel-Streik geht auch dieses Buch diesen Weg konsequent weiter: Es präsentiert die verschiedensten Erfahrungen, Verständnis für die Situation der KollegInnen im selben und in anderen Betrieben, seien sie nun solidarisch oder wurden gezwungen, als Streikbrecher zu fungieren.

Liebevoll aufgemacht, wie es allgemein bei dem Verlag Assoziation A üblich ist – mit zahlreichen Abbildungen, die zum Großteil ebenfalls von den Streik-AktivistInnen zur Verfügung gestellt wurden – präsentiert dieses Buch ein Stück sozialer Geschichte in der BRD, die sonst wohl vergessen worden wäre, obwohl sie zukunftsweisend ist. In den aktuellen Klassen- und sozialen Kämpfen, wie den Streiks in den niedersächsischen Flüchtlingslagern Blankenburg und Bramsche/Hesepe, sollten wir an die Pionierleistung der KollegInnen von Gate Gourmet zurückdenken. Sie haben den Arbeitskampf nicht wirklich gewonnen, aber sich ihre „Würde am Arbeitsplatz“ zurück erobert und damit, denn das war zurecht Motto des Streiks, einen erfolgreichen Kampf um die Menschenwürde geführt. „[D]er Kampf war wichtig, er war tatsächlich unvermeidbar, er hat Grenzen aufgezeigt und Möglichkeiten bewiesen, die auch heute noch, trotz aller Repressionen und Angst, vorhanden und machbar sind. [...] [W]enn wir alle zusammen nochmals bis an den Abgrund geführt würden, wir müssten das wieder tun“ (S.90)!

Nicht nur Gate Gourmet oder die Texas Pacific Group, sondern die gesamte Funktionsweise des Kapitalismus führt uns täglich an diesen Abgrund, das lässt sich aus dem Streik bei Gate Gourmet und aus diesem Buch lernen. Wir müssten das wieder tun, und zwar alle.

Torsten Bewernitz


Flying Pickets (Hrsg.): ... auf den Geschmack gekommen. Sechs Monate Streik bei Gate Gourmet. Assoziation A, Berlin/ Hamburg 2006. 13,- Euro

Weitere verwendete Literatur:

Gester, Jochen und Willi Hajek: Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel Bochum Oktober 2004. Berlin 2005.

Hildebrandt, Eckart und Werner Olle: Ihr Kampf ist unser Kampf. Ursachen, Verlauf und Perspektiven der Ausländerstreiks 1973 in der BRD. Offenbach 1975.

Negt, Oskar: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt a. M. 1968.

Roth, Karl Heinz: Der Zustand der Welt. Gegen-Perspektiven. Hamburg 2005.

Silver, Beverly J.: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin/ Hamburg 2005.



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